EINSTELLREGELN

Die Wirkungsweise von Überstromzeitschutz-Einrichtungen beruht auf der Erfassung einer gefährlichen oder unerwünschten Überstromsituation und einer entsprechend den Prinzipien des Zeitstaffelschutzes verzögerten Auslösung. Bei der Ermittlung korrekter und auch Sonderfälle berücksichtigende Einstellwerte sind folgende Einstellregeln und Praktikerformeln hilfreich.

von Lothar H. Fickert Datum 12.06.2018

UMZ Schutz

GRUNDSÄTZLICHES

Die Wirkungsweise von Überstromzeitschutz-Einrichtungen beruht auf der Erfassung einer gefährlichen oder unerwünschten Überstromsituation und einer entsprechend den Prinzipien des Zeitstaffelschutzes verzögerten Auslösung. Als Überstrom bezeichnet man Stromgrößen, die den Nennstrom (zulässigen Dauerstrom) überschreiten.

Grundsätzlich wird das Überstrom-Zeit-Verhalten in zwei Kategorien eingeteilt:

  • stromunabhängige Zeitverzögerung
  • stromabhängige Zeitverzögerung.

Für das erste Wirkungsprinzip hat sich die Bezeichnung UMZ-Schutz (Unabhängiger Maximalstrom-Zeit-Schutz) eingebürgert. Die stromabhängige Zeitverzögerung wird dementsprechend als AMZ-Schutz (Abhängiger Maximalstrom-Zeit-Schutz) bezeichnet. Da in der mitteleuropäischen Schutztechnik der AMZ-Schutz in der Regel nur im Niederspannungsbereich in Form von Sicherungen verwendet wird und der vorliegende Aufsatz auf den Überstromzeitschutz in der Verteilnetzebene fokussiert ist, wird in diesem Beitrag auf die Staffelung von AMZ-Schutz-Einrichtungen nicht weiter eingegangen. Bezüglich der Aufgabenstellung kann man weiters zwischen

  • Sachgüterschutz (Anlagenschutz) und
  • Personenschutz

unterscheiden:

Im Netzbetrieb oder beim Betrieb von Industrieanlagen wird wegen der negativen Auswirkungen von überlast- oder kurzschlussbedingten Erwärmungen im Sinne des Sachgüterschutzes danach getrachtet, diese durch Begrenzung des störungsbedingten I2t-Wertes so klein wie möglich zu halten.

Ein weiteres betriebstechnisches Motiv, die Störungszeit kurz zu halten, sind – speziell im Industriebetrieb – die negativen Auswirkungen der kurzschlussbedingten Spannungseinbrüche: Empfindliche Steuerungen fallen aus, sodass es neben dem Schaden des primär von der Störung betroffenen Betriebsmittels auch noch Kollateralschäden durch Prozessausfälle gibt. Auch wegen des Personenschutzes sollte man die Abschaltzeiten möglichst kurz wählen: Da grundsätzlich nie ausgeschlossen werden kann, dass sich zum Zeitpunkt eines Kurzschlusses Menschen in der Nähe der Kurzschlussstelle befinden, ist gegebenenfalls auch auf den Personenschutz und die entsprechend dafür notwendigen kurzen Abschaltzeiten Rücksicht zu nehmen.

Aus allen diesen Gründen strebt man möglichst kurze Einstellungen der jeweiligen Zeitverzögerung an.

ZEITLICHER VERLAUF VON ÜBERSTRÖMEN

Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Auslegung der eingesetzten Betriebsmittel und die üblichen Betriebsweisen ausreichen, um längerfristige Überlastungen und somit eine thermisch bedingte vorzeitige Alterung oder gar Zerstörungen der Betriebsmittel zu vermeiden.

Abb. 1 Strom-/Zeit-Verlauf bei Überlast und Kurzschluss (schematische Darstellung) 

In Abb. 1 werden zwei Fälle von Überstromsituationen gezeigt: eine vorübergehende Überlastsituation und ein Kurzschluss. Da Überstromzeitschutz-Einrichtungen für die Erfassung von  Kurzschlüssen, nicht aber für die Überwachung von Überlastsituationen vorgesehen sind, werden betriebliche Dauerüberlastungen nur in sehr beschränktem Maße berücksichtigt. Überstromzeitschutz-Einrichtungen stellen somit keinen wirksamen Überlastschutz dar.

Aus dem Strom-/Zeit-Verlauf erhält man durch Kippen und Drehen das Auslösezeit-/Überstromdiagramm einer Überstromzeitschutz-Einrichtung – s. Abb. 2. Um die großen Dynamikbereiche bei den Strömen (einige A bis kA) und Zeiten (einige s bis 10 s) übersichtlich darstellen zu können, wird für Strom und Zeit eine logarithmische Skalierung der Achsen gewählt.

Abb. 2 Auslösezeit-/Überstromdiagramm (schematische Darstellung)

EINSTELLREGELN FÜR DIE ANSPRECHWERTE DES ÜBERSTROMZEITSCHUTZES

Da eine korrekt eingestellte Schutzeinrichtung den stabilen Betrieb nicht beeinträchtigen darf, muss sie auf die ungünstigsten, aber thermisch zulässigen Betriebszustände Rücksicht nehmen und im Sinne eines erweiterten Selektivitätsbegriffes zwischen „Betrieb“ und „Störung“ unterscheiden.

UNTERE ANSPRECHGRENZE – KRITERIUM 1

Der Stromanrege-Wert der Überstromzeitschutz-Einrichtung muss genügend hoch sein, um sicherzustellen, dass die Schutzeinrichtung auch unter Starklastbedingungen des Netzes oder bei Hochlaufvorgängen in Industriebetrieben nicht ungerechtfertigt anspricht. Es hat sich als nachteilig erwiesen, als den maximalen Betriebsstrom die untere Grenze für den Bereich der Überstromanregung heranzuziehen: Dieser ändert sich im Lauf der Zeit durch geänderte Anforderungen seitens der Verbraucher, und daher müssten in solch einem Fall die Schutzeinrichtungen permanent angepasst werden.
Deshalb sollte der Ansprechwert einer Überstromzeitschutz-Einrichtung IAnregung um einen gewissen Faktor fAS über dem Nennstrom des schwächsten, im Fehlerstrompfad „stromabwärts“ zu überwachenden Betriebsmittels INenn,min liegen. Damit ergibt sich als

EINSTELLREGEL NR. 1:
Grundsätzlich gilt – Gl. 1

Mit einem Anregesicherheitsfaktor fAS zwischen 1,3 und 1,5 ergibt sich die Praktikerformel Gl. 2

Der Anregesicherheitsfaktor fAS enthält im Sinne einer Sicherheitsmarge auch eine allfällige Rückfall-Hysterese und erfüllt somit die Forderung nach Betriebsstabilität, nämlich, dass es zu keiner Überfunktion des Schutzes kommt.

Bemerkung 1:
Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass bei einem Überstromzeitschutz durch die zeitliche Staffelung bei einem Versagen der vorhergehenden Überstromzeitschutz-Stufe (Schutzversager, Leistungsschalterversager) die nächste Überstromzeitschutz-Stufe die Schutzfunktion, wenn auch verzögert, wahrnimmt. Die Einhaltung dieser Prämisse ist allerdings im Einzelfall zu prüfen. Sollte dies zum Beispiel bei einer Einspeisung mit sehr vielen stromschwachen Abgängen aufgrund der unterschiedlichen Ansprechpegel nicht der Fall sein, liegt grundsätzlich eine Lücke im Schutzkonzept vor, welche entsprechend zu schließen ist (Schalterversagerschutz, Doppelschutz).

Bemerkung 2:
Einen Sonderfall stellen Hochlaufvorgänge von großen Motoren/Motorgruppen dar (siehe unten„Sonderfall 2“).

OBERE ANSPRECHGRENZE – KRITERIUM 2

Der Stromanrege-Wert der Überstromzeitschutz-Einrichtung muss genügend tief sein, um sicherzustellen, dass die Schutzeinrichtung für

  • alle Fehlerorte
  • alle Kurzschlussarten
  • unter allen relevanten ungünstigen Betriebs- und Fehlerzuständen

sicher anregt, damit die Abschaltung vorbereitet wird und es so zu keiner Unterfunktion des Schutzes kommt.

BEDEUTUNG DER FEHLERORTE

Bezüglich der Fehlerorte ist bei einem Überstromzeitschutz-Verfahren im Hinblick auf die Ansprechsicherheit der – von der Schutzeinrichtung aus gesehen – entfernteste Fehlerort – und das beim schwächsten Einspeisefall – zu betrachten, um ein Schutzversagen im Sinne einer Unterfunktion zu vermeiden.

Im Gegensatz zur ungünstigsten Fehlerschleife, welche sich aus der Netztopologie und den betroffenen Betriebsmitteln ergibt, ist die ebenfalls relevante Innenimpedanz der Quelle nicht immer eindeutig: Bei klassischen Verteilnetzen, die vom „starken“ Hochspannungsnetz über mindestens einen Umspannwerks-Transformator angespeist werden, ist erfahrungsgemäß die durch die Kurzschlussleistung des Hochspannungsnetzes gegebene Quellimpedanz deutlich kleiner als die Summe der Transformatorimpedanz und allfälliger Leitungswiderstände. Deshalb wird sie in der schutztechnischen Praxis im Allgemeinen vernachlässigt und die Ungenauigkeit zur Wahrung der Anregeverlässlichkeit pragmatisch durch einen Anregeverlässlichkeitsfaktor fAV im Sinne einer Sicherheitsmarge berücksichtigt.

Kritischer hingegen ist die Situation im Falle aktiver Verteilnetze im Inselbetrieb: Hier liegt derzeit noch keine konsolidierte Situation für eine gesicherte Kurzschlussstrom-Einspeisung in ausreichender Höhe und mit ausreichender Qualität vor. Abhilfemaßnahmen bei stromschwacher Einspeisung, damit Überstromzeitschutz-Einrichtungen ihre Funktion ordnungsgemäß wahrnehmen können, werden weiter unten behandelt (siehe unten „Sonderfall 3“).

BEDEUTUNG DER FEHLERARTEN

Bei den Fehlerarten wird üblicherweise der dreipolige Kurzschluss wegen der einfachen Berechnung herangezogen. Beim zweipoligen Kurzschluss ohne Erdberührung beträgt allerdings der Kurzschlussstrom nur das √3/2-Fache vom Wert des dreipoligen Kurzschlussstroms und ist somit um ca. 15 % kleiner als dieser. Die Strompegel beim zweipoligen Kurzschluss mit Erdberührung liegen etwas höher, erreichen aber die Werte des dreipoligen Kurzschlussstroms nicht. Auch diese variable Höhe des Kurzschlussstromes wird in pragmatischer Weise als Anregeverlässlichkeitsfaktor fAV („Sicherheitsmarge“) berücksichtigt. Wenn für die schutztechnische Behandlung einpoliger Fehler das Verfahren der Erdschlusslöschung eingesetzt wird, treten hier definitionsgemäß keine Überströme auf, und der Fehler wird durch die Erdschluss-Schutzeinrichtungen geklärt.

Wenn hingegen für die Erdschlussortung stromstärkere Verfahren (niederohmige Sternpunkterdung – NOSPE, kurzzeitige niederohmige Sternpunktserdung – KNOSPE, kurzzeitige Erdung der gesunden Phase – KNOPE) eingesetzt werden, gelten die gleichen Betrachtungen wie für drei- und zweipolige Kurzschlüsse, wobei statt des Phasenstroms als Schutzkriterium der Summenstrom herangezogen wird. Man spricht in diesem Fall von einem Summen-Überstromzeitschutz.

Bemerkung 3:
Da der zweipolige Fehler ohne Erdberührung als Ausgangspunkt für die Anregeverlässlichkeit heranzuziehen ist, aber im Allgemeinen nur der dreipolige Fehlerfall berechnet wird, muss man bei der praxisgerechten Verwendung dieses Wertes für die Bestimmung des maximalen Anregewertes die Sicherheitsmarge um weitere 15 % erhöhen. Ein Sonderfall ist der Doppelerdschluss mit verteilten Fußpunkten („Cross-Country Fault“), bei dem der Kurzschlussstrom für typische Fälle ca. 90 bis 60 % des Wertes für einen zweipoligen Kurzschluss ohne Erdberührung beträgt.

BERÜCKSICHTIGUNG VON RELEVANTEN UNGÜNSTIGEN BETRIEBS-/FEHLERZUSTÄNDEN

Dadurch, dass Überstromzeitschutz-Einrichtungen auch unter ungünstigen Umständen zuverlässig arbeiten sollen, müssen auch diese betrachtet werden. In erster Linie sind hier Sonderschaltzustände (Revisionsschaltungen, Not-/Reserve-Einspeisungen usw.) zu berücksichtigen.

Bekanntermaßen erhöhen allfällige Lichtbogenwiderstände die Impedanz der Fehlerschleife und reduzieren damit grundsätzlich den Kurzschlussstrom. Hier empfiehlt sich eine kurze Abschätzung des Lichtbogenwiderstandes,welche zum Beispiel gemäß der Warrington-Formel vorgenommen werden kann – Gl. 3

Bei dieser Formel muss man den Fehlerstrom in Ampere und die Lichtbogen-Brennweite in Metern einsetzen, welche üblicherweise mit der Länge der Isolatoren gleichgesetzt wird. Dadurch aber, dass in der Regel Fehlerstromschleifen überwiegend induktiv sind, ergibt sich bei der (korrekten) vektormäßigen Addition der Fehlerschleifenimpedanz und des Lichtbogenwiderstandes i. A. nur ein geringer Einfluss des Lichtbogens.

Bemerkung 4:
Hinsichtlich der Auswahl der relevanten ungünstigsten Betriebs-/Fehlerzustände sollte man Augenmaß walten lassen: Wenn man nämlich das Schutz-Engineering nach dem Motto„ kann man ausschließen, dass die Konstellation ... eintritt“ durchführt, steigen erfahrungsgemäß mit abnehmender Wahrscheinlichkeit für eine solche Konstellation die Komplexität und der Aufwand im Schutzbereich sehr rasch an. Unter den Gesichtspunkten einer Risikoanalyse ergeben sich oft nicht mehr praktikable Konzepte. Hier sollte man die allgemeine Regel „Keep it simple“ befolgen und nach den Gesichtspunkten des Risikomanagements vorgehen. Aus den vorstehenden Überlegungen resultiert die

EINSTELLREGEL NR. 2:
Grundsätzlich gilt als zwingende Obergrenze für die Einstellung des Anregewertes – Gl. 4

bzw. Gl. 5

Mit einem Anregeverlässlichkeitsfaktor fAV zwischen 1,5 und 2,0 ergibt sich die Praktikerformel– Gl. 6

Der Anregewert muss unter dem ungünstigsten Wert des betriebsmäßig auftretenden Kurzschlussstromes liegen, um Unterfunktionen zu vermeiden. In der Praxis wird diese Forderung durch den Anregeverlässlichkeitsfaktor fAV im Sinne einer Sicherheitsmarge berücksichtigt, welcher aber – zumindest stichprobenweise – eine Kontrolle durch Kurzschlussberechnungen nicht vollständig ersetzt.

EINSTELLREGELN FÜR DIE VERZÖGERUNGSZEITEN BEIM ÜBERSTROM-ZEITSTAFFELSCHUTZ

Die Fehlerortselektivität des Überstrom-Zeitstaffelschutzes basiert darauf, dass mit Fehlereintritt die im Kurzschlusspfad liegenden Überstromzeitschutz-Einrichtungen gleichzeitig anregen und diejenige Schutzeinrichtung zuerst auslöst, welche – von der Quelle aus gesehen – dem Fehlerort am nächsten liegt. Für die klassische Reserveschutzfunktion muss dabei die jeweils „stromaufwärts“ gelegene Überstromzeitschutz-Einrichtung anregen. Deren Auslösung sollte allerdings erst nach eindeutigem Versagen der unmittelbar zugeordneten Schutzeinrichtung, dann aber möglichst rasch erfolgen.

In der Praxis bedeutet das, dass die maximale Fehlerklärungszeit (Detektionszeit tDetektion zuzüglich eingestellter Verzögerungszeit tVerzögerung,max der zugeordneten Schutzeinrichtung, zuzüglich der Leistungsschaltereigenzeit tLS sowie der Lichtbogenlöschzeit tLib) zuzüglich der maximalen Rückfallzeit der vorgelagerten Schutzeinrichtung tRückfall,stromauf kürzer sein muss als die minimale Ansprechzeit (Detektionszeit tDetektion,stromauf zuzüglich eingestellter Verzögerungszeit tVerzögerung,stromauf,min) der vorgelagerten („stromaufwärts“ befindlichen) Überstromzeitschutz-Einrichtung ist. Daraus folgt für die (zeitlichen) Staffelabstände Δt die 

EINSTELLREGEL NR. 3:
Grundsätzlich gilt – Gl. 7

bzw. Gl. 8

Daraus ergibt sich der Staffelabstand – Gl. 9

Die größte Fehlerklärungszeit der einem Fehlerort zugeordneten Überstromzeitschutz-Einrichtung muss somit kürzer als die Relais-Eigenzeit zuzüglich der maximalen Rückfallverzögerung der Richtung Quelle vorgelagerten Schutzeinrichtung sein.

In der Praxis hat sich für die Staffelung von Überstromzeitschutz-Einrichtungen eine Staffelzeit von 300 ms bewährt. Die Stufenzeiten für den Überstromzeitschutz ergeben sich als ganzes Vielfaches von 300 ms (0,3 / 0,6 / 0,9 s usw.). Fallweise, bei älteren Leistungsschaltern mit hohen Eigenzeiten und/oder Schutzeinrichtungen mit ungenauem Zeitverhalten im Netz, ist der Staffelabstand auf 400 bis 500 ms zu erhöhen. Damit lautet die Praktikerformel– Gl. 10

bei Altanlagen.

Als Ausgangswert für die kleinste Staffelzeit wird in der Schutzpraxis von Mittelspannungsnetzen die Abschaltzeit für einen oberspannungsseitigen Fehler bei einem Verteilnetz-Transformator oder die vertraglich vereinbarte Auslösezeit an der Übergabestelle zu einem Netzkunden gewählt.

Die Berücksichtigung des Niederspannungsschutzes (Automaten, Sicherungen) für die Zeitstaffelung ist in der Regel aus folgenden Gründen nicht nötig: Wenn nämlich diese Transformatoren mit einem Überstromzeitschutz ausgestattet sind, sollte dieser zweistufig sein. Die erste, unverzögerte Stufe („Hochstromstufe“) erfasst die soeben erwähnten Kurzschlüsse auf der Oberspannungsseite des Transformators mit einer Fehlerklärungsdauer von maximal 0,1 s und wird in der Regel so eingestellt, dass sie impedanzmäßig Fehler „bis in die Mitte des Transformators“ erfasst. Für die Reserveschutzfunktion bei einem Fehler auf der Niederspannungsseite muss eine weitere verzögerte Überstromzeitschutzstufe vorhanden sein: Ihre Überstromeinstellung orientiert sich am Nennstrom des Transformators, und die Verzögerung wird entsprechend der Staffelung des Niederspannungsnetzes gewählt.

Da aber üblicherweise die Transformatoren oberspannungsseitig mit Sicherungen geschützt sind, ist deren Auslösezeit einzusetzen. Bei den üblichen Kurzschlussströmen in der Mittelspannungsebene, bei denen die Stromamplitude in der Größenordnung von 2 bis 6 kA liegt, lösen diese Sicherungen so schnell aus, dass  für Staffelzwecke von einer Fehlerklärungsdauer von 0,1 s ausgegangen werden darf. Zusammenfassend ergibt das die

EINSTELLREGEL NR. 4:
Die kürzeste Auslösezeit in einem Mittelspannungsnetz tritt bei den Verteilnetz-Transformatoren auf und kann mit 0,1 s angesetzt werden.

BEDEUTUNG DES I2t-WERTES FÜR DIE ÜBERSTROMZEITSCHUTZ-EINRICHTUNGEN

Der klassische Überstrom-Zeitstaffelschutz weist gegenüber dem oben kurz skizzierten AMZ-Schutz einen gravierenden Nachteil auf, nämlich dass mit steigender Nähe zur Einspeisung nicht nur die Fehlerströme zunehmen, sondern auch die Auslösezeiten steigen. Das bedeutet ein überproportionales Anwachsen des im Fehlerfall auftretenden I2t-Wertes und damit Zerstörungen von Sachgütern bzw. die Gefährdung von Personen durch Einwirkung von Lichtbögen.

Dementsprechend muss sichergestellt sein, dass auch im ungünstigsten Fall die jeweiligen Grenzwerte sowohl bezüglich des Sachgüterschutzes (I2t-Wert der Leitungen) als auch bezüglich des Personenschutzes (kJ/m2) eingehalten werden. Sollte es zu Widersprüchlichkeiten hinsichtlich der maximal zulässigen Fehlerdauer und der minimalen, durch den Schutz vorgegebenen, Fehlerklärungszeit kommen, ist selbstverständlich die Zeitbegrenzung entsprechend den Anforderungen des Sachgüterschutzes und des Personenschutzes vorrangig, wiewohl in einem solchen Fall die Selektivität darunter leidet. Man kann diese Aussage zusammenfassen in

EINSTELLREGEL NR. 5:
Die Fehlerklärungszeit für jeden Fehlerort ist auf jeden Fall durch die Anforderungen des Sachgüterschutzes und des Personenschutzes begrenzt.

SONDERFÄLLE

SONDERFALL 1: RUSHVORGÄNGE VON GROSSEN TRANSFORMATORLEISTUNGEN
Wenn im Netzbetrieb die Stromversorgung eines Abganges, zum Beispiel durch einen Kurzschluss, unterbrochen worden ist, wird die Wiederversorgung erst mit einer gewissen Verzögerung aufgenommen. In der Folge des Zuschaltens kommt es zur Überlagerung der Einschaltstromstöße der einzelnen Verteilnetz-Transformatoren des betreffenden Abganges und somit – entsprechend der Anzahl und der Nennströme dieser Transformatoren – zu einer transienten Stromspitze. Da solche Stromspitzen in der Regel aber bis zum Erreichen der Staffelzeit des Abgangsschutzes abgeklungen sind, wurden in der Praxis zwar schon Anregungen des Abgangsschutzes beobachtet, die aber in den seltensten Fällen zu einer Schutzauslösung führten. Da Rushvorgänge im Allgemeinen eine kräftige zweite Oberschwingung aufweisen, bringt hier eine Oberschwingungssperre beim Überstromrelais Abhilfe. Falls die Schutzeinrichtungen nicht mit dieser Funktion ausgestattet sind, bietet in einem solchen Fall das gestaffelte, gruppenweise Wiederzuschalten von Transformatorgruppen sichere Abhilfe.

SONDERFALL 2: HOCHLAUFVORGÄNGE VON GROSSEN MOTOREN/MOTORGRUPPEN
Im Gegensatz zur üblichen Netzschutzpraxis, bei welcher sich der Laststrom nur zeitlich langsam ändert, gibt es Industrieanlagen mit Motoren, bei deren Anlauf kräftige transiente Überströme auftreten. Damit diese nicht zur Auslösung der Anspeisung führen, muss hier der Überstrom-Zeitstaffelschutz entsprechend hoch eingestellt werden, um eine solche Fehlauslösung zu verhindern. Die Anregegrenze der Überstromzeitschutz-Einrichtung in den Einspeisungen ist dann so auszulegen, dass bei vorherigem betriebszustandsbedingten Vollbetrieb das Zuschalten des größten Motors zu keiner Anregung führt.

Bemerkung 5:
Die Alternative, nämlich die Verzögerungszeit entsprechend hochzustellen, scheidet aus: Wegen der üblichen Anlaufdauer im Bereich von mehreren Sekunden müssten auch Verzögerungszeiten der Motor-Einspeisungen und in der Folge auch die vorgelagerten Überstromzeitschutz-Einrichtungen entsprechend verzögert werden. Die dafür hypothetisch notwendigen Verzögerungen im Bereich von mehreren Sekunden im Falle eines Kurzschlusses sind allerdings aufgrund der Belastbarkeit der Betriebsmittel und der Beeinträchtigung des Netzbetriebes durch lange Spannungseinbrüche unzumutbar.

SONDERFALL 3: SPANNUNGSGESTEUERTER ÜBERSTROMSCHUTZ BEI STROMSCHWACHEN EINSPEISUNGEN
Für den Fall besonders langer Einspeiseleitungen oder relativ kleiner Einspeiseaggregate (Notstromdiesel, Wechselrichter) kann es vorkommen, dass der Kurzschlussstrom kleiner als der Nennstrom der Leitungen wird. In diesem Fall bietet der spannungsgesteuerte Überstromschutz wirksame Abhilfe: Solange die Spannung am Relaiseinbauort URelais im Bereich der Nennspannung ist, z. B. URelais > 70 % UN, arbeitet das Relais mit dem üblichen hohen Ansprechwert. Da aber voraussetzungsgemäß die Spannung am Relaiseinbauort URelais im Fehlerfall, bedingt durch den Kurzschluss und die schwache Kurzschlussstromeinspeisung, zusammenbricht, wird der Ansprechwert herabgesetzt. Die Zeitstaffelung bleibt davon unbeeinflusst. Das ergibt die

EINSTELLREGEL NR. 6 – Gl. 11

Gl. 12

ZUSAMMENFASSUNG

Überstromzeitschutz-Einrichtungen stellen in der Regel keinen wirksamen Überlastschutz dar. Damit auch unter kurzzeitigen Überlastbedingungen keine Anregung erfolgt, muss die Einstellung für die Überstromanregung oberhalb des zulässigen Betriebsbereiches zuzüglich eines Anregesicherheitsfaktors – Gl. 13

liegen. Als Praktikerformel wird empfohlen – Gl. 14

Damit auch bei ungünstigen Fehlerbedingungen eine sichere Anregung erfolgen kann, muss die Einstellung unterhalb des Bereiches der minimalen Kurzschlussströme abzüglich eines Anregeverlässlichkeitsfaktors – Gl. 15

liegen. Als notwendige Obergrenze für die Anregung wird i. S. einer Praktikerformel – Gl. 16

empfohlen.

Die folgende Abb. 3 zeigt in Form eines Bandmodells die Strombereiche bei Überstromzeitschutz-Einrichtungen.

Abb. 3 Strom-/Zeit-Verlauf bei Überlast und Kurzschluss (schematische Darstellung)

Wenn bei stromschwachen Einspeisungen der Kurzschlussstrom kleiner als der Nennstrom der Leitungen wird, kann ein spannungsgesteuerter Überstromschutz verwendet werden, für den folgende Einstellregel gilt – Gl. 17

Gl. 18

ÜBERSTROMZEITSCHUTZ - Ausgabe 02/18

Hier können Sie die 2.Ausgabe 2018 zum Thema ÜBERSTROMZEITSCHUTZ als PDF herunterladen und einen Gesamteindruck vom NETZSCHUTZ Magazin bekommen.

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EINFACHER SAMMELSCHIENENSCHUTZ

Um in Mittelspannungsverteilungen mit nachgeschalteten Unterverteilungen nicht die kritische 1,0-s-Fehlerdauer zu erreichen, wird das Prinzip der „Rückwärtigen Verriegelung“ eingesetzt. Ob klassisch...

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