Zuverlässigkeit und Reserve

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Die für die zuverlässige Funktion des Leitungsdifferentialschutzes wichtige Auslöseverlässlich­keit wird durch verschiedene Netzcharakteristiken häufig negativ beeinflusst. Ein weiteres Sicherheitsthema ist der Wirkungsbereich des Leitungsdifferentialschutzes, der an den Enden des Schutzobjektes endet. Diese Faktoren sind bei Konzeption und Parametrierung dieser Schutzeinrichtungen zu berücksichtigen.

von Lothar Fickert Datum 02.06.2017

Leitungsschutz

Das Prinzip des Leitungsdifferentialschutzes beruht bekanntermaßen auf der Anwendung der Knotenregel. Sie besagt, dass die Summe aller zu- und abfließenden Ströme gleich 0 ist. 

In der Regel ist das Schutzobjekt ein Mehrpha­senleitungssystem (Abb.1), das in der Folge für dreiphasig-symmetrische Vorgänge durch seine Mitsystem-Ersatzschaltung dargestellt ist. 

Abb. 1 Ersatzschaltbild einer Einphasenleitung 

SICHERHEIT GEGEN FEHLANSPRECHEN UND AUSLÖSEVERLÄSSLICHKEIT

Es gilt also in einer ersten Betrachtungsstufe für die Phasenströme I1 und I2 an den beiden Enden. Glg. 1

Der Leitungsdifferentialschutz wertet die Summe bzw. (bei umgekehrter Zählweise des Stroms I2) die Differenz der Phasenströme an beiden Enden aus und bildet das Strom-Diffe­renzsignal ΔI gemäß Glg. 2 

Im Fehlerfall geht das Strom-Differenzsignal .I bei üblichen Leitungslängen und spezifi­schen Impedanzen wegen des in der Regel vernachlässigbaren Betrags der kapazitiven Ströme des geschützten Leitungsabschnittes in die geläufige Form lt. Glg. 3 über: 

Damit tritt der im Normalbetrieb immer fließen­de kapazitive Strom des geschützten Leitungs­abschnittes als Falschstrom in Erscheinung, und das hat bezüglich der Ansprechempfindlichkeit nachteilige Auswirkungen. Generell gelten in der Schutztechnik für Einstel­lungen von Ansprechwerten folgende Regeln:

Regel 1 – Sicherheit gegen Fehlansprechen:

Der Ansprechwert einer auf Auslösung ge­schalteten Schutzfunktion (im Sinne eines „Über“-Schutzes) muss deutlich über den im ungünstigsten Fall im Normalbetrieb auftreten­den Signalwerten liegen, um eine Überfunktion zu verhindern. Glg. 4 

Den Quotienten α bezeichnet man auch als Anregesicherheit. 

Regel 2 – Auslöseverlässlichkeit:

Diese weitere Grundregel besagt, dass der An­sprechwert dieser Schutzfunktion eindeutig unter dem Signalwert für die ungünstigsten Fehlerfälle liegen muss. Glg. 5 

Den Quotienten ß bezeichnet man als Auslöseverlässlichkeit.  

Empfehlenswerte Zahlenwerte für a und ß sind z. B. Glg. 6 und Glg. 7 

Diese Regeln werden auf den Leitungsdifferen­tialschutz angewendet.

Regel 1 – Sicherheit gegen Fehlansprechen:

Der maximale Falschstrom entsteht bei erhöh­ter Phasenspannung. Diese tritt in der Regel sowohl in unmittelbar als auch strombegren­zend geerdeten und in gelöschten Netzen in den gesunden Phasen bei einem Erdfehler auf. Für gelöschte Kabelnetze ergibt sich für den Fall einer um 10 % gegenüber der Nenn-Pha­senspannung erhöhten Betriebsspannung. 

Glg. 8 

Regel 2 – Auslöseverlässlichkeit:

Für die Aus­löseverlässlichkeit bei zwei- und dreiphasigen Fehlern ist hier der geringste Fehlerstrom ein­zusetzen, nämlich der 2-phasige Fehlerstrom bei geschwächtem Netz (90 % Spannung und kleiner Kurzschlussleistung). Glg. 9 

Bezüglich der Erfassung von einpoligen Fehlern gibt es – je nach Sternpunktbehandlung – zwei Möglichkeiten:

Variante A: In niederohmig geerdeten Netzen (NOSPE) ist der einpolige Fehlerstrom so groß gewählt worden, dass er die kapazitiven Pha­senstrombeiträge des längsten gesunden Lei­tungsabschnittes deutlich überschreitet. Hier arbeitet der Leitungsdifferentialschutz korrekt.

Variante B: Wenn als Sternpunktbehandlung die Löschung gewählt wurde, kann der Fehler­strom (= Phasenstrom auf dem kranken Leiter) sehr klein werden und das Differenzsignal reicht für ein sicheres Ansprechen nicht aus. Das gilt auch für die Auswertung der Summenströme. Hier ist ein Leitungsdifferentialschutz fehl am Platz. 

LÖSUNG FÜR DAS EINSTELLPROBLEM 

Wenn man der Einfachheit halber die Sicher­heitsfaktoren α und ß mit 2 ansetzt, erhält man die allgemeinen Grenzen für die Einstellbarkeit und damit Einsetzbarkeit des Leitungsdifferen­tialschutzes zur Detektierung von zwei- und dreiphasigen Fehlern: Glg. 10 

SELEKTIVITÄT UND RESERVESCHUTZ­FUNKTION 

Der klassische Leitungsdifferentialschutz (ohne Zusatzfunktionen) vergleicht die Differenz der Ströme an den Enden des Schutzobjektes, und dort endet auch sein Wirkungsbereich. Fehler außerhalb des durch die Stromwandler de­finierten Bereichs werden nicht ausgewertet. Der treffende anglo-amerikanische Ausdruck dafür lautet „unit protection“. Im Sinne einer Steigerung der Zuverlässigkeit des Netzschutzes ist es erforderlich, für den Fall einer nicht erfolgten Abschaltung eines fehlerbehafteten Netzabschnittes eine Reser­veschutzfunktion sicherzustellen. Das bedeutet für das Schutzkonzept „Differen­tialschutz“ in der Praxis – je nach Einspeisever­hältnissen, Netztopologie und Netzschutz-Ge­samtkonzept - den zusätzlichen Einbau von beispielsweise Überstromschutzeinrichtungen oder Überstrom-Richtungs-Schutzeinrichtun­gen oder Distanzschutzeinrichtungen. Diese Schutzeinrichtungen müssen zeitmäßig und fehlerortsmäßig die mit Leitungsdifferential­schutz ausgestatteten Netzabschnitte über­staffeln, d. h. jede Fehlerart und jeden Fehlerort in diesem Abschnitt im Versagensfall erfassen und abschalten. 

ZUSAMMENFASSUNG 

Für das grundsätzlich empfindliche Verfah­ren des Leitungsdifferentialschutzes stellt der kapazitive Falschstrom des zu schützenden Leitungsabschnittes, speziell im Erdfehlerfall, eine untere Empfindlichkeitsgrenze dar. Das beeinflusst die Sicherheit gegen Fehlanspre­chen negativ. Geringe Kurzschlussleistungen können sich andererseits auf die Auslösever­lässlichkeit negativ auswirken. Da der Wirkungsbereich des Leitungsdifferen­tialschutzes an den Enden des Schutzobjektes endet, ist eine Reserveschutzfunktion beispiels­weise in Form von Überstrom- (Richtungs-) Schutzeinrichtungen bzw. Distanzschutzein­richtungen sicherzustellen. 

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