Zuverlässigkeit und Reserve
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Die für die zuverlässige Funktion des Leitungsdifferentialschutzes wichtige Auslöseverlässlichkeit wird durch verschiedene Netzcharakteristiken häufig negativ beeinflusst. Ein weiteres Sicherheitsthema ist der Wirkungsbereich des Leitungsdifferentialschutzes, der an den Enden des Schutzobjektes endet. Diese Faktoren sind bei Konzeption und Parametrierung dieser Schutzeinrichtungen zu berücksichtigen.
Das Prinzip des Leitungsdifferentialschutzes beruht bekanntermaßen auf der Anwendung der Knotenregel. Sie besagt, dass die Summe aller zu- und abfließenden Ströme gleich 0 ist.
In der Regel ist das Schutzobjekt ein Mehrphasenleitungssystem (Abb.1), das in der Folge für dreiphasig-symmetrische Vorgänge durch seine Mitsystem-Ersatzschaltung dargestellt ist.
Abb. 1 Ersatzschaltbild einer Einphasenleitung
SICHERHEIT GEGEN FEHLANSPRECHEN UND AUSLÖSEVERLÄSSLICHKEIT
Es gilt also in einer ersten Betrachtungsstufe für die Phasenströme I1 und I2 an den beiden Enden. Glg. 1
Der Leitungsdifferentialschutz wertet die Summe bzw. (bei umgekehrter Zählweise des Stroms I2) die Differenz der Phasenströme an beiden Enden aus und bildet das Strom-Differenzsignal ΔI gemäß Glg. 2
Im Fehlerfall geht das Strom-Differenzsignal .I bei üblichen Leitungslängen und spezifischen Impedanzen wegen des in der Regel vernachlässigbaren Betrags der kapazitiven Ströme des geschützten Leitungsabschnittes in die geläufige Form lt. Glg. 3 über:
Damit tritt der im Normalbetrieb immer fließende kapazitive Strom des geschützten Leitungsabschnittes als Falschstrom in Erscheinung, und das hat bezüglich der Ansprechempfindlichkeit nachteilige Auswirkungen. Generell gelten in der Schutztechnik für Einstellungen von Ansprechwerten folgende Regeln:
Regel 1 – Sicherheit gegen Fehlansprechen:
Der Ansprechwert einer auf Auslösung geschalteten Schutzfunktion (im Sinne eines „Über“-Schutzes) muss deutlich über den im ungünstigsten Fall im Normalbetrieb auftretenden Signalwerten liegen, um eine Überfunktion zu verhindern. Glg. 4
Den Quotienten α bezeichnet man auch als Anregesicherheit.
Regel 2 – Auslöseverlässlichkeit:
Diese weitere Grundregel besagt, dass der Ansprechwert dieser Schutzfunktion eindeutig unter dem Signalwert für die ungünstigsten Fehlerfälle liegen muss. Glg. 5
Den Quotienten ß bezeichnet man als Auslöseverlässlichkeit.
Empfehlenswerte Zahlenwerte für a und ß sind z. B. Glg. 6 und Glg. 7
Diese Regeln werden auf den Leitungsdifferentialschutz angewendet.
Regel 1 – Sicherheit gegen Fehlansprechen:
Der maximale Falschstrom entsteht bei erhöhter Phasenspannung. Diese tritt in der Regel sowohl in unmittelbar als auch strombegrenzend geerdeten und in gelöschten Netzen in den gesunden Phasen bei einem Erdfehler auf. Für gelöschte Kabelnetze ergibt sich für den Fall einer um 10 % gegenüber der Nenn-Phasenspannung erhöhten Betriebsspannung.
Glg. 8
Regel 2 – Auslöseverlässlichkeit:
Für die Auslöseverlässlichkeit bei zwei- und dreiphasigen Fehlern ist hier der geringste Fehlerstrom einzusetzen, nämlich der 2-phasige Fehlerstrom bei geschwächtem Netz (90 % Spannung und kleiner Kurzschlussleistung). Glg. 9
Bezüglich der Erfassung von einpoligen Fehlern gibt es – je nach Sternpunktbehandlung – zwei Möglichkeiten:
Variante A: In niederohmig geerdeten Netzen (NOSPE) ist der einpolige Fehlerstrom so groß gewählt worden, dass er die kapazitiven Phasenstrombeiträge des längsten gesunden Leitungsabschnittes deutlich überschreitet. Hier arbeitet der Leitungsdifferentialschutz korrekt.
Variante B: Wenn als Sternpunktbehandlung die Löschung gewählt wurde, kann der Fehlerstrom (= Phasenstrom auf dem kranken Leiter) sehr klein werden und das Differenzsignal reicht für ein sicheres Ansprechen nicht aus. Das gilt auch für die Auswertung der Summenströme. Hier ist ein Leitungsdifferentialschutz fehl am Platz.
LÖSUNG FÜR DAS EINSTELLPROBLEM
Wenn man der Einfachheit halber die Sicherheitsfaktoren α und ß mit 2 ansetzt, erhält man die allgemeinen Grenzen für die Einstellbarkeit und damit Einsetzbarkeit des Leitungsdifferentialschutzes zur Detektierung von zwei- und dreiphasigen Fehlern: Glg. 10
SELEKTIVITÄT UND RESERVESCHUTZFUNKTION
Der klassische Leitungsdifferentialschutz (ohne Zusatzfunktionen) vergleicht die Differenz der Ströme an den Enden des Schutzobjektes, und dort endet auch sein Wirkungsbereich. Fehler außerhalb des durch die Stromwandler definierten Bereichs werden nicht ausgewertet. Der treffende anglo-amerikanische Ausdruck dafür lautet „unit protection“. Im Sinne einer Steigerung der Zuverlässigkeit des Netzschutzes ist es erforderlich, für den Fall einer nicht erfolgten Abschaltung eines fehlerbehafteten Netzabschnittes eine Reserveschutzfunktion sicherzustellen. Das bedeutet für das Schutzkonzept „Differentialschutz“ in der Praxis – je nach Einspeiseverhältnissen, Netztopologie und Netzschutz-Gesamtkonzept - den zusätzlichen Einbau von beispielsweise Überstromschutzeinrichtungen oder Überstrom-Richtungs-Schutzeinrichtungen oder Distanzschutzeinrichtungen. Diese Schutzeinrichtungen müssen zeitmäßig und fehlerortsmäßig die mit Leitungsdifferentialschutz ausgestatteten Netzabschnitte überstaffeln, d. h. jede Fehlerart und jeden Fehlerort in diesem Abschnitt im Versagensfall erfassen und abschalten.
ZUSAMMENFASSUNG
Für das grundsätzlich empfindliche Verfahren des Leitungsdifferentialschutzes stellt der kapazitive Falschstrom des zu schützenden Leitungsabschnittes, speziell im Erdfehlerfall, eine untere Empfindlichkeitsgrenze dar. Das beeinflusst die Sicherheit gegen Fehlansprechen negativ. Geringe Kurzschlussleistungen können sich andererseits auf die Auslöseverlässlichkeit negativ auswirken. Da der Wirkungsbereich des Leitungsdifferentialschutzes an den Enden des Schutzobjektes endet, ist eine Reserveschutzfunktion beispielsweise in Form von Überstrom- (Richtungs-) Schutzeinrichtungen bzw. Distanzschutzeinrichtungen sicherzustellen.