DIGITALE SCHUTZGERÄTE ERFASSEN ERDSCHLÜSSE PRÄZISE

Digitale Schutzeinrichtungen gestatten durch eine hohe Flexibilität und Leistungsfähigkeit mit verschiedenen Funktionen, die auf modernen Algorithmen beruhen, Erdschlüsse richtig zu erfassen. Nachfolgend werden einige Verfahren, deren sinnvolle Kombinationen sowie Erfahrungen aus dem praktischen Einsatz beschrieben.

von Klaus Böhme und Thomas Liebach Datum 13.12.2017

Erdschlussschutz

Das Thema Erdschluss bleibt insbesondere in Verteilungsnetzen auch im Zeitalter der Energiewende ein aktuelles Thema, was durch eine anhaltend hohe Zahl von Anfragen aus den Energieversorgungsunternehmen, der Diskussion in Schutzarbeitskreisen und auf Fachtagungen, aber auch in Veröffentlichungen unterstrichen wird.

Die Erdschlusserkennung und -eingrenzung wird erschwert durch falsche Richtungsbestimmungen, Nichtansprechen von Schutzeinrichtungen wegen zu geringer Fehlerströme, den Meldeschwall bei intermittierenden Fehlern oder auch das Fehlansprechen von Erdschlussschutzeinrichtungen durch andere Fehlerursachen. Die Nutzung der digitalen Schutztechnik führt zu einer wesentlich zuverlässigeren Erkennung und Lokalisierung von Erdschlüssen. Dabei helfen neben einer Vielzahl flexibel einsetzbarer Funktionen eine hochgenaue Abtastung der Fehlergrößen Strom und Spannung, die Störschreibung und die Speicherung der Schutzreaktionen. Der technische Fortschritt in der Gerätetechnik und neue Ideen der Entwickler haben in den letzten Jahren zum Einsatz erweiterter und verbesserter  Algorithmen geführt.

UNTERSCHIEDLICHE ERDSCHLUSSVERFAHREN STEHEN ZUR VERFÜGUNG

Die Auswahl der geeigneten Erdschlussschutzfunktion hängt von der Art des Netzes (isoliert / kompensiert / Freileitung / Kabel …), den Fehlerbedingungen und auch den Erfahrungen des Anwenders ab.
Die einfachsten Schutzfunktionen arbeiten ungerichtet und werten die Nullsystemspannung U0> Verlagerungsspannung) oder den Nullsystemstrom 3I0> aus. Mit den genannten Verfahren ist eine Erkennung des Erdschlusses möglich, nicht aber die Eingrenzung des Erdschlussortes auf der Grundlage der Fehlerrichtungsbestimmung.

Die Erweiterung der Schutzfunktion um die Auswertung der Phasendifferenz zwischen U0 und 3I0 erlaubt die Bestimmung der Richtung des Erdschlusses. Zu den am häufigsten verwendeten Verfahren zählt in kompensierten Netzen das wattmetrische Verfahren. Die Richtungsbestimmung wird durchgeführt, wenn der Erdfehler eine ausreichend lange Zeit bestehen bleibt, damit nach dem Abklingen der transienten Vorgänge im Netz der Schutzalgorithmus zu einer sicheren Richtungsidentifikation kommt. Dieses Verfahren findet außerdem Anwendung im U-I-Phi-Verfahren und auch bei der Richtungsbestimmung mit höheren Harmonischen. Bei kurzzeitigen, nicht beständigen Erdschlüssen ist die Richtungsbestimmung über die Phasendifferenz nicht möglich. Für schnell wieder verlöschende oder auch häufiger wiederkehrende Erdfehler bedarf es anderer Verfahren, die eine zuverlässige Richtungsbestimmung gestatten.

Ein weithin bekanntes Verfahren bildet die Erdschlusswischerfunktion. Weniger verbreitet ist das Pulsortungsverfahren, das zur Erdschlussortung keine Spannungen erfasst, aber einen zusätzlichen Pulsgenerator erfordert. Heute werden von unterschiedlichen Schutzgeräteherstellern multifunktionale Schutzeinrichtungen angeboten, die u. a. auch verschiedene Erdschlussschutzfunktionen beinhalten. Das Angebot mehrerer, verschiedener Verfahren deutet an, dass es zur Erdschlusserfassung nicht die „eine Lösung“ gibt. Für den Betreiber ergibt dies die Herausforderung, das beste Verfahren für sein  Verteilungsnetz auszuwählen, einzusetzen und im Falle eines Erdschlusses daraus die richtigen Schlüsse abzuleiten. Die Tab. 1 zeigt, welches Verfahren zur „empfindlichen Erdschlusserfassung“ in welchen Fällen besondere Stärken hat. 

Tab. 1 Eignung von Erdschlussverfahren bezogen auf die Netztypen und Fehlerarten

Die nachfolgend beschriebenen Verfahren zeichnen sich durch eine hohe Leistungsfähigkeit bei der Erdschlusserkennung aus. Auf der Basis neu entwickelter Algorithmen werden diese in Schutzgeräten der Produktreihe SIPROTEC 5 genutzt. [1]. 

Erdschlusswischerverfahren

Die Erdschlusswischerfunktion ermittelt aus den transienten Vorgängen, die zum Beginn eines jeden Erdschlusses in kompensierten und isolierten Netzen auftreten, die Richtung des Fehlerortes. Bei einem Erdschluss tritt in den ersten 5…10 ms des Fehlervorganges der sogenannte „Wischereffekt“ auf. Die Zeit und die Frequenz der Transienten sind im Wesentlichen abhängig von den Netzkapazitäten [2], der Art des Fehlers (hochohmig, niederohmig) und der Dauer des Fehlers. Bei der Entladung der Leitungskapazitäten im fehlerbehafteten Leiter und der Aufladung der Kapazitäten der fehlerfreien Leiter [3] entsteht ein charakteristischer Strom- und Spannungsverlauf. Die Aufladeschwingung kann mit hohen Abtastraten (mindestens 8 kHz) zuverlässig erfasst werden. Mit der Analyse der elektrischen Größen Strom und Spannung während der kurzen Zeit des Umladevorganges wird es möglich, die Fehlerrichtung zu ermitteln.

Bereits analoge Erdschlusswischerrelais nutzten die Analyse des Einschwingvorganges zur Fehlerrichtungsbestimmung. Bedingt durch die begrenzten technischen Möglichkeiten kam und kommt es wiederholt zu fehlerhaften Ergebnissen bei der Richtungsbestimmung mit analogen Messprinzipien. Das Verfahren ist bei niederohmigen Fehlern sicherer als bei hochohmigen.
Die gerichtete Erdschlusswischerfunktion mittels digitaler Messgrößenverarbeitung wertet den Wischereffekt innerhalb einer kurzen Phase nach Fehlereintritt aus und trifft eine sichere Richtungsentscheidung  auch bei hochohmigen Fehlern.

In den Schutzgeräten der SIPROTEC 5 Produktreihe wird zur Bestimmung der Erdschlussrichtung die Wirkleistung im Nullsystem als Kriterium verwendet (siehe Gl. 1 und 2). Diese repräsentiert den Ohm’schen Anteil Signal. Da über die gesamte Zeit des Umladevorganges der Wirkleistungsanteil existiert, kann man diesen auch ab dem Fehlereintritt integrieren.Es wird folglich die Wirkenergie im Nullsystem ausgewertet (siehe Gl. 3)

Gl. 1

Gl. 2

Gl. 3

Die berechnete Wirkenergie vergleicht der Schutzalgorithmus mit Schwellwerten. Das Überschreiten des positiven Schwellwertes bestimmt den Erdschluss in Rückwärtsrichtung, das Unterschreiten des negativen Schwellwertes hingegen in Vorwärtsrichtung.

Die in SIPROTEC 5 Geräten integrierte Erdschlusswischerfunktion ist seit 2013 im Einsatz und erhielt von vielen Energieversorgungsunternehmen sehr gute Bewertungen in Hinblick auf die Empfindlichkeit und real 100 % Zuverlässigkeit bei der Richtungsbestimmung.

Pulsortung
Beim „Pulsortungs-Verfahren“ wird ein Pulsmuster über die Kompensationsspule, durch zeitweises Parallelschalten eines Kondensators, auf den Erdstrom moduliert. Die Kompensation wird dabei mit dem zu erkennenden Muster zeitweise verstimmt. Das Pulsmuster erzeugt Erdstromimpulse im Sekundenbereich. Tritt ein Erdschluss im Netz auf, ist dieser Puls nur in der fehlerhaften Leitung von den im Netz vorhandenen Schutzgeräten messbar. Hinter dem Erdschlussort ist er nicht mehr zu erkennen. Damit kann in Strahlennetzen der Erdschluss eingegrenzt und geortet werden. In vermaschten Netzen wird es notwendig, vor Einleitung der Pulsortung die Maschen durch Schaltmaßnahmen zu öffnen. Das Verfahren ist nur sinnvoll einsetzbar, wenn über eine längere Zeit der Erdschluss besteht und die Primärtechnik zur Erzeugung der Pulse vorhanden sind. Dank der Integration der Pulsartungsverfahren in der Schutzgerätereihe SIPROTEC 5 kann bei vorhandenem Pulsgenerator ohne Zusatzgerät die Pulsmustererkennung als zusätzliches Fehlererkennungskriterium genutzt werden.

Erdschlussrichtungsbestimmung mit höheren Harmonischen
Die bislang betrachteten Verfahren verwenden die Grundschwingung von Strom und Spannung zur Richtungserkennung. Auch die im Netz vorhandenen Oberschwingungsanteile bieten sich für die Erdfehlerermittlung an. In den heute bekannten Verfahren werden die 3., 5. und 7. Oberschwingung bewertet. Für den Stromfrequenzbereich ab 150 Hz ist die Petersen-Spule hochohmig. Dadurch verhält sich das kompensierte Netz wie im Fall eines isolierten Sternpunktes. Der Anteil des kapazitiven Stromes wird durch die höhere Frequenz größer. Die genannten Verfahren sind folglich auch bei hochohmigen Fehlern hochempfindlich.

KOMBINATION VON VERFAHREN

Da alle Verfahren ihre Stärken und Schwächen haben, liegt es nahe, mehrere Verfahren parallel einzusetzen und deren Ergebnisse geeignet zu kombinieren. In den meisten Fällen ist hier eine ODER-Verknüpfung ausreichend. Diese wird in der empfindlichen Erdschlussfunktion in den SIPROTEC 5 Geräten automatisch auf Basis der Richtungsergebnisse der verwendeten Stufen (die die unterschiedlichen Erdschlussverfahren enthalten) in der „Erdschlussmeldung“ gebildet.

Eine der am häufigsten einzusetzenden Kombinationen ist die von Erdschlusswischerverfahren und wattmetrischer Erdschlusserfassung. Dabei bestimmt die  Erdschlusswischerfunktion am Anfang des Fehlers die Richtung und das wattmetrische Verfahren nach Abklingen des transienten Einschwingvorganges die Bestätigung für einen, ggf. vorhandenen, Dauererdschluss. In Abb. 1 sind die Ergebnisse beider Funktionen eines Störschriebes dargestellt. Die Erdschlusswischerfunktion liefert auch bei empfindlicher Einstellung und hochohmigen Fehlern zuverlässige Ergebnisse. Zusätzlich sind in den Binärsignalen die Position des Messfensters der Wischerfunktion (letztes Binärsignal) und die erkannte Fehlerlöschung (erstes Signal) in  der Störschriebaufzeichnung erkennbar.

Weiterführende, auch komplexere Funktionsverknüpfungen lassen sich unter Verwendung der integrierten anwenderdefinierbaren Logiken (z. B. der CFC-Logik bei den SIPROTEC 5 Geräten) mit geringem Zusatzaufwand realisieren. Es können so z. B. 2 aus 2 Entscheidungen realisiert werden (UND-Verknüpfung der beiden Vorwärtsentscheidungen) oder auch andere Erdschlussverfahren gesperrt werden, wenn ein intermittierender Erdschluss vorliegt. Die Umsetzung der zusätzlichen Logiken macht dann Sinn, wenn vorher Analysen aufgezeichneter Erdschlüsse durchgeführt wurden. Zusätzlich werden dabei auch die langjährigen Erfahrungen der Spezialisten in den Energieversorgungsunternehmen und von Herstellerseite herangezogen, um optimierte Lösungen zu entwerfen.

Abb. 1 Störschrieb Kombination cos/sin mit Erdschlusswischer

PRAKTISCHE ERFAHRUNGEN

Zwei ausgewählte Beispiele aus der Praxis können darstellen, wie die Thematik sinnvoll umgesetzt wurde.

Beispiel 1:
Bei analogen Erdschlusswischerrelais gab es Probleme, den Ansprechstrom so einzustellen, dass die Erdschlüsse in den eigenen 20-kV-Netzen zuverlässig und korrekt erkannt wurden. Beim Einsatz der digitalen Erdschlusswischerfunktion der SIPROTEC 5 Geräte ist dieses Problem behoben. Es wird nur noch der Ansprechwert der Erdschlussspannung eingestellt. Die Funktion arbeitet unabhängig von der Erdstromhöhe und sichert zu 100 % korrekte Richtungsentscheide. In diesem Jahr traten in den sehr ausgedehnten, vorgeordneten 110-kV-Netzen und im eigenen 20-kV-Netz eines deutschen Stadtwerks mehr als 230 Erdschlüsse auf. Bei 18 im Netz vorhandenen SIPROTEC 5 Geräten mit integrierter Erdschlusswischerfunktion gab es folglich 4140 korrekte Richtungsanzeigen. Die Erdschlusswischererfassung wurde mit dem klassischen Verfahren für kompensierte Netze, der wattmetrischen Erdschlusserfassung, kombiniert.

Beispiel 2:
In einem 2. Beispiel wird von einem Energieversorgungsunternehmen das wattmetrische Verfahren im Netz eingesetzt. Überraschend trat ein Schwall von Meldungen nach der Modernisierung der Schutzgeräte auf. Die Analyse ergab, dass es sich bei den Fehlern um intermittierende Erdschlüsse handelte, die vorwiegend in Kabelnetzen auftreten. Daraufhin wurde das wattmetrische Verfahren um die Erdschlusswischerfunktion und den intermittierenden gerichteten Erdschlussschutz ergänzt. Diese drei Funktionen stehen nun zur Analyse bei auftretenden Erdschlüssen zur Verfügung. Zwei Verfahren werden dem Wartenpersonal aktuell je Abzweig auf einem Monitor dargestellt. Auf Basis dieser Informationen besteht mehr Sicherheit bei der Fehlerinterpretation und der Einleitung von Folgemaßnahmen. Abb. 1 Störschrieb Kombination cos/sin mit Erdschlusswischer.

ZUSAMMENFASSUNG

Durch die Integration verschiedener Erdschlussschutzfunktionen in einem multifunktionellen digitalen Schutzgerät ist es heute möglich, Erdschlüsse in kompensierten und isolierten Netzen sicher zu erfassen und zuverlässig den Fehlerort einzugrenzen. Durch die Einbindung der Schutzgeräte in die  Kommunikationsinfrastruktur des Betreibers verkürzen sich Reaktionszeiten, verringern sich Risiken für die Fehlerausdehnung und erhöht sich die Versorgungssicherheit für die Verbraucher.

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