Stromwandler - DISTANZSCHUTZ MIT MERGING UNITS
Über einen standardisierten Prozessbus können Schutzgeräte mit Merging Units anderer Hersteller kommunizieren. Müssen in diesem Fall die Algorithmen im Schutzgerät die Merging Unit berücksichtigen? Der Beitrag geht dieser Frage mit einer experimentellen Untersuchung nach.
Merging Units sind die Brücken zwischen einem Prozessbus und den Strom- bzw. Spannungswandlern. Sie bilden die analogen sekundären Ströme und Spannungen der Wandler als digitale Größen auf den Prozessbus ab. Einen Prozessbus nach Stand der Technik definiert [1].
Abb. 1 zeigt ein exemplarisches Distanzschutzsystem mit einem Prozessbus nach [1]. Es besteht aus einem Leistungsschalter, Wandlern, einem Schutzgerät, einer Merging Unit und einer I/O Box. Die Merging Unit beinhaltet im Wesentlichen zwei Komponenten: eine Anpassschaltung (1) und Mikroelektronik (2). Die Anpassschaltung wandelt die analogen sekundären Ströme und Spannungen in Signale im Bereich weniger Volt um, damit die Mikroelektronik diese weiterverarbeiten kann. Diese Mikroelektronik besteht typischerweise aus Filtern, Analog-Digital-Wandlern und einem Mikroprozessor. Letzterer speist fortlaufend Ströme und Spannungen als digitale Sampled Values (SV) in den Prozessbus ein. Anhand dieser SV bestimmt ein Schutzgerät mithilfe eines Algorithmus (3) Impedanzen. Eine Distanzschutzfunktion (4) wertet diese Impedanzen aus. Wenn eine selektive Fehlerklärung notwendig ist, sendet das Schutzgerät ein Auslösekommando als Generic Object Oriented Substation Event (GOOSE) Telegramm auf den Prozessbus. Bei Erhalt dieses Kommandos betätigt eine I/O Box (5) dann den Leistungsschalter.
Abb. 1 Distanzschutzsystem mit einer Merging Unit (schematisch)
Ein Distanzschutzsystem mit einem standardisierten Prozessbus ermöglicht es, Merging Unit und Schutzgerät von unterschiedlichen Herstellern zu beziehen. Über die Kompatibilität auf Protokollebene hinausgehend stellt sich dann die Frage, ob sich der Algorithmus im Schutzgerät für die transienten Eigenschaften der Merging Unit eignet. Um diese Frage zu beantworten, stellen wir eine Untersuchung mit einer kommerziell verfügbaren Merging Unit aus dem Jahr 2017 an. Diese ist kompatibel zu einem Prozessbus nach [1]. Ihre transienten Eigenschaften sind unbekannt und derzeit noch in keiner Norm definiert.
METHODIK ZUR UNTERSUCHUNG EINES DISTANZSCHUTZES MIT EINER MERGING UNIT
Abb. 2 zeigt die Untersuchungsmethodik und Tab. 1 die darin verwendeten Geräte und Werkzeuge. Das erste Werkzeug ist eine transiente Netzsimulation. Wir wenden hier einen Testfall aus [2] an: einen Leiter-Erde-Kurzschluss auf einer beidseitig gespeisten Hochspannungsfreileitung. Aus dieser Simulation erhalten wir transiente Strom- und Spannungsverläufe. Ein Signalgenerator erzeugt daraus analoge Größen mit den Normpegeln 1 A und 100 V. Mit diesen Größen beaufschlagen wir die Merging Unit. Die von ihr erzeugten SV erfassen wir mithilfe eines Prozessbusrekorders. Abschließend liest ein Algorithmus die SV ein und bestimmt Impedanzen. Außerdem zeichnet ein konventionelles Schutzgerät die analogen Ströme und Spannungen auf. Ein Vergleich der Momentanwerte sowie der durch den Algorithmus bestimmten Impedanzen wird dann eine Bewertung erlauben. Als Referenz werden wir die unverfälschten Strom- und Spannungsverläufe aus der Netzsimulation heranziehen.
Abb. 2 Untersuchungsmethodik
Tab. 1 Verwendete Geräte und Werkzeuge
EINFLUSS DER MERGING UNIT AUF DIE MOMENTANWERTE
Wir vergleichen die Momentanwerte, die Schutzgerät und Merging Unit erfassen, mit der Referenz – Abb. 3. Auf Seiten des Schutzgeräts zeigen weder der Spannungs- noch der Stromverlauf erkennbare Fehler. Auf Seiten der Merging Unit ist zwar der Spannungsverlauf ideal. Im Stromverlauf sind jedoch Abweichungen erkennbar: Zum einen ist der Verlauf ein wenig verzögert, d. h. wir sehen einen Winkelfehler. Zum anderen wird der Gleichanteil nicht getreu übertragen, die Abklingzeitkonstante ist verkürzt. Im Folgenden werden wir sehen, wie stark diese Abweichungen den Algorithmus beeinflussen.
Abb. 3 Momentanwerte der Ströme und Spannungen
EINFLUSS DER MERGING UNIT AUF DEN ALGORITHMUS
Aus den Verläufen von Strom und Spannung bestimmen wir Impedanzen. Dazu verwenden wir einen Algorithmus nach [3] erweitert um das Admittanzverfahren nach [4]. Dieser Algorithmus harmoniert so gut mit dem Schutzgerät, dass der Verlauf der Impedanz quasi deckungsgleich mit der Referenz ist – Abb. 4. Derselbe Algorithmus zeigt ein anderes Verhalten mit der Merging Unit. Er bestimmt den Betrag der Impedanz mit einem minimalen Fehler. Der Winkel weicht deutlicher von der Referenz ab: Auch 60 ms nach Beginn des Kurzschlusses verbleibt noch ein Fehler von etwa 3,5°. Anschließend werden wir versuchen, den Winkelfehler mit einer Abstimmung des Algorithmus zu reduzieren.
Abb. 4 Durch den Algorithmus bestimmte Impedanzen
ABSTIMMUNG DES ALGORITHMUS AUF DIE MERGING UNIT
Da wir nun das transiente Verhalten der Merging Unit besser kennen, können wir den Algorithmus abstimmen. Zuerst reduzieren wir den Einfluss des ungetreuen Gleichglieds im Stromverlauf mit einem DC Blocker. Dann kompensieren wir den Winkelfehler mit einem statischen Offset. Dies verbessert die Genauigkeit der Impedanzbestimmung, sodass die Abweichungen im Betrag und Winkel quasi null sind – Abb. 5. Die Abstimmung ist also effektiv. Ob sie notwendig ist, hängt von der Anwendung ab. Ob sie möglich ist, hängt vom Wissen über die transienten Eigenschaften der Merging Unit ab.
Abb. 5 Impedanzen mit abgestimmtem Algorithmus
ZUSAMMENFASSUNG
Die Untersuchung sollte zeigen, ob der Algorithmus eines Distanzschutzgeräts für einen Prozessbus unabhängig von der Merging Unit gewählt werden kann. Dazu sind transiente Strom- und Spannungsverläufe mit einer Merging Unit erfasst worden. Der so erhaltene transiente Stromverlauf wich geringfügig vom Ideal ab. Diese Abweichung verleitete einen exemplarischen Impedanzalgorithmus zu einem Winkelfehler von wenigen Grad, während der Impedanzbetrag quasi fehlerfrei war. Mit einer Abstimmung des Algorithmus konnte der Winkelfehler dann eliminiert werden.
Die Untersuchung hat anhand eines Beispiels gezeigt, dass ein funktionierendes Distanzschutzsystem möglich ist, ohne die Merging Unit im Detail zu kennen. Allerdings deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die transienten Eigenschaften der Merging Units nicht rückwirkungsfrei auf die Algorithmen in den Schutzgeräten sind. Zusätzliche Messfehler, wenn auch irrelevant für die tatsächliche Anwendung, sind zu erwarten. Deshalb sollten Anwender ein Distanzschutzsystem vor Inbetriebnahme mit transienten Prüfgrößen validieren. Ein optimales Schutzsystem ist jedoch nur zu erreichen, indem Algorithmus und Merging Unit aufeinander abgestimmt werden.
Die transienten Eigenschaften von Merging Units sollten klassifiziert werden – und zwar in ähnlicher Weise, wie dies die Norm [5] für konventionelle Stromwander vorgibt. In diesem Sinne erarbeitet das Technical Committee TC38 im IEC derzeit die Norm [6] speziell für Merging Units [7]. Diese Norm wird die Grundlage schaffen, um die Algorithmen in den Schutzgeräten über Herstellergrenzen hinweg optimal auf Merging Units abzustimmen.
Quellen
1 IEC, 61850-9-2: Specific Communication Service Mapping (SCSM) – Sampled values over ISO/IEC 8802-3, 2008.
2 IEC, 60255-121: Measuring relays and protection equipment – Part 121: Functional requirements for distance protection, 2013.
3 A. McInnes; und I. Morrison, Real time calculation of resistance and reactance for transmission line protection by digital computers. In: Electrical Engineering Transactions, Institute of Engineers of Australia, 1971, S. 16–23
4 C. Liebermann; J. Meyer; P. Schegner; M. Kleemann, Zuverlässige Impedanzberechnung für Leiter-Erde-Schleifen. In: Netzschutz – Das Magazin für Schutztechnik, 2/2017
5 IEC 61869-2: Instrumenttransformers – Part 2: Current transformers, 2012.
6 IEC 61869-13: Instrument Transformers, Part 13: Stand Alone Merging Unit, in Bearbeitung.
7 V. Skendzic; D. Dolezilik, New and Emerging Solutions for Sampled Value Process Bus IEC 61850-9-2 Standard – An Editor’s Perspective. In: Proceedings of Southern African Power System Protection & Automation Conference, 8.–10. 11. 2017.